Tagestour nach Tschernobyl

Tagestour nach Tschernobyl

Ein Besuch in der Sperrzone rund um das Kernkraftwerk Tschernobyl ist heute eine der beliebtesten Touristenattraktionen in der Ukraine. Nachdem 1986 der Reaktor Nr. 4 des Kraftwerks explodierte und Radioaktivität über Europa verteilte, wurde ein Gebiet mit einem Radius von 37 km auf Dauer zum Sperrgebiet erklärt. Mehr als 30 Jahre nach dem Unfall bieten heute gleich mehrere Unternehmen professionell geführte Touren in die „Todeszone“ an – es gibt eine Kantine, Geschäfte und zwei Hotels vor Ort. Aus dem größten Atomunfall der Geschichte hat sich ein lukrativer Geschäftszweig entwickelt.

Mit einem geliehenen Geigerzähler macht das Erkunden in Tschernobyl extra Spaß.
Mit einem geliehenen Geigerzähler macht das Erkunden in Tschernobyl extra Spaß.

Unsere Tour, die wir online bei SoloEastTravel gebucht haben, startet an einem regnerischen Morgen in Kiew. Von dort werden wir in einer Kolonne aus drei großen Reisebussen ins nördlich gelegene Tschernobyl gebracht. Mehr als zwei Stunden sind wir unterwegs, während auf einem kleinen Fernseher eine veraltete Dokumentation über den Reaktorunfall läuft. Wer ein paar Euro extra bezahlt hat erhält nun einen eigenen Geigerzähler.

Die Fahrt verläuft ziemlich schleppend. Immer wieder halten wir an, füllen Formulare für den Eintritt in die Sperrzone aus oder werden an verschiedenen Check-Points von der ukrainischen Polizei kontrolliert. Manchmal stoppt der Bus auch etwas willkürlich an einem Denkmal oder einer kleinen Statue.

Zalissia Village

Ehemalige Gemeindehalle in Zalissia
Ehemalige Gemeindehalle in Zalissia

Unser erster richtiger Stop ist schließlich Zalissia Village – ein kleines Dorf innerhalb der 30km-Sperrzone. Die wenigen Häuser, die hier einmal standen, sind seit der Evakuierung komplett verfallen und geplündert worden. Auch die Natur hat sich ihren Raum zurückerobert und erschwert die Erkundung.

Die Gemeindehalle in Zalissia von Innen
Die Gemeindehalle in Zalissia von Innen

Erlaubt ist das Betreten der Gebäude in Zalissia nicht. Wie auch bei all unseren späteren Stationen machen unsere Guides hier aber großzügig „Ausnahmen“. Schließlich sind es ja genau diese Eindrücke der kompletten Verwüstung, die uns und all die anderen Touristen nach Tschernobyl locken. Eingeschlagene Scheiben, von den Wänden blätternde Tapeten und Unmengen an Schutt und Geröll. Hier ist nichts von Wert zurück geblieben.

Tschernobyl-Stadt

Gegen Mittag hat der Regen glücklicherweise aufgehört und wir erreichen Tschernobyl-Stadt. Hier werden wir zum ersten Mal richtig über den Umgang mit der immer noch vorhandenen Strahlung aufgeklärt. Keine Pflanzen berühren, keine Gegenstände vom Boden aufheben und nicht auf dem Boden sitzen! Die Anekdote einer Touristin, die ihre Hose wegen zu starker radioaktiver Kontamination zurück lassen musste, bewirkt, dass wir uns auch brav an die Regeln halten.

Die Stadt selbst ist eher unspektakulär, aber da sich die Kantine hier befindet, wurden wir auch zu einigen Denkmälern gebracht.

Denkmal in Tschernobyl
Denkmal in Tschernobyl

Kindergarten in Kopachi

Nach dem erstaunlich guten Mittagessen folgen dann endlich die Highlights der Tour. Wir passieren die 10km-Zone am Leliv Check-Point und halten kurze Zeit später an einem ehemaligen Kindergarten an. Hier messen wir zum ersten Mal erhöhte Strahlengrenzwerte mit unserem Geigerzähler (3,56 Millisievert). Ein komisches Gefühl, dass das hektische Ticken des kleinen Gerätes der einzige Indikator der „gefährlichen“ Strahlung ist!

Sören mit Geigerzähler vor dem alten Kindergarten
Sören mit Geigerzähler vor dem alten Kindergarten

Dabei ist an dieser Tour natürlich überhaupt nichts Gefährliches. Bei jedem Langstreckenflug ist der Körper höherer Strahlung ausgesetzt als hier in Tschernobyl. Als normaler Tourist muss man sich daher absolut keine Gedanken um die Strahlenbelastung machen. Damit auch die Guides und das weitere Personal vor Ort gesund bleiben, dürfen sie nur wenige Schichten pro Woche in der Sperrzone arbeiten.

Kinderspielzeug in Tschernobyl
Kinderspielzeug in Tschernobyl

Als Fotografin war der Kindergarten mein Lieblingsort in der Zone. Puppen, Fahrräder und ein Kinderherd liegen verstreut auf dem Gelände, die verrosteten Gitterstäbe der Kinderbetten und ein einzelner zurückgelassener Kinderschuh lassen das Kopfkino ablaufen.

Der Kindergarten bietet einfach genau die schauerlichen Katastrophen-Bilder, die man aus Tschernobyl mitbringen möchte.  

Eine fotogen platzierte Puppe im alten Kindergarten in Tschernobyl
Eine fotogen platzierte Puppe im alten Kindergarten in Tschernobyl

Gleichzeitig haben wir hier aber auch am stärksten das Gefühl, dass Tschernobyl schon lange kein authentischer Ort mehr ist. So viele Touristengruppen haben sich hier schon durchgeschoben, dass es wirkt, als wäre jeder Gegenstand ganz bewusst von einem besonders ambitionierten Fotografen platziert worden. 

Ein kleiner Hase auf einer Fensterbank
Ein kleiner Hase auf einer Fensterbank

Das Kraftwerk und der Sarkophag

Nach dem Besuch im alten Kindergarten nähern wir uns immer weiter dem Kraftwerk. Mittlerweile scheint die Sonne und der Himmel ist fast wolkenlos. Unter diesen Voraussetzungen sieht der Reaktor gar nicht aus, als würde er weiterhin Radioaktivität abgeben.

Das Kraftwerk aus einiger Entfernung
Das Kraftwerk aus einiger Entfernung

Ein paar seltsame Stops später (z.B. an einer Brücke, um Fische zu füttern – nein, sie hatten keine drei Augen!) stehen wir schließlich knapp 100 Meter vor dem Kraftwerk. Fotografieren dürfen wir an diesem Ort nur aus einem ganz genau definierten Winkel, was auch tatsächlich von den Guides überwacht wird.

Knapp 100 Meter vom Kraftwerk entfernt.
Knapp 100 Meter vom Kraftwerk entfernt.

Spannender als das Kraftwerk selbst ist die Weiterfahrt durch den „roten Wald“. Ein ganzes Gebiet aus Koniferen hatte sich nach der Katastrophe durch die hohen Strahlenwerte orange-rot verfärbt. So erhielt der Wald einen neuen Namen.

Auf der kleinen Straße durch den roten Wald messen wir die höchsten Strahlenwerte der Tour (3,83 Millisievert). Aussteigen dürfen wir hier nicht.

Prypjat

Am Nachmittag erreichen wir mit unserer Tour die Geisterstadt Prypjat. Einst lebten hier knapp 50.000 Menschen – heute sind die weitläufigen Straßen komplett verlassen.

Die im Jahr 1970 gegründete Kleinstadt Prypjat
Die im Jahr 1970 gegründete Kleinstadt Prypjat

Am bekannten Rummelplatz angekommen muss es auf einmal ganz schnell gehen. Als hätten sich unsere Guides verplant, werden wir hektisch von einer Station zur nächsten getrieben. Für längere Erkundungstouren durch die so interessante Kleinstadt bleibt keine Zeit.

Auch am berühmten Riesenrad sind wir nur für wenige Minuten. Dabei hätte der Rummelplatz, der erst einige Tage nach der Nuklearkatastrophe hätte eröffnet werden sollen, so viele Fotomotive zu bieten!

Riesenrad in Prypjat
Riesenrad in Prypjat

Auch am nie benutzten Autoscooter und dem kleinen Karussell hat der Zahn der Zeit genagt.

Autoscooter in Prypjat
Autoscooter in Prypjat

In ebenso rasantem Tempo geht es weiter zum Kulturpalast, einem Supermarkt und einem Theater. Zwischenzeitlich trennen sich unsere beiden Guides sogar auf, da einige Gruppenmitglieder nicht mehr hinterherkommen. Das macht die Situation etwas chaotisch. Auch dass wir für jede noch so kurze Strecke in den Bus geladen werden nervt. Aber wer weiß schon, an welche Regeln sich die Betreiber der Tour halten müssen.

Ein verfallener Supermarkt in Prypjat
Ein verfallener Supermarkt in Prypjat

Bevor wir Prypjat wieder verlassen, dürfen wir noch zwei große Gebäude von Innen besichtigen: eine alte Turnhalle und eine Schule.

Der große Pool der Sporthalle wurde überraschenderweise bis 1998 und damit lange nach dem Unglück benutzt. Die Arbeiter, die für das Aufräumen rund um das Kraftwerk herum zuständig waren, haben hier gebadet. Der Pool gilt als einer der am wenigsten verstrahlten Orte in Prypjat.

Der olympische Pool der Turnhalle
Der olympische Pool der Turnhalle

Für einen letzten Gruselfaktor hat noch einmal die alte Schule gesorgt. Wie in einem schlechten Horror-Film liegen hier haufenweise kaputte Gasmasken auf dem Boden oder hängen von der Decke.

Kaputte Gasmasken auf dem Boden einer Schule
Kaputte Gasmasken auf dem Boden einer Schule

Wofür die Masken benutzt wurden und wieso sie ausgerechnet in der Schule aufbewahrt wurden, haben wir nicht erfahren.

Wie im Film: eine Gasmaske hängt von der Decke herab
Wie im Film: eine Gasmaske hängt von der Decke herab

Für den Besuch des Krankenhauses in Prypjat bleibt keine Zeit mehr.

Russian Woodpecker

Der „Russian Woodpecker“ bildet den Abschluss unserer Tour. Die 150 Meter hohe Duga-3 Anlage sollte Raketenstarts in einem Umkreis von 15.000km erkennen und hat dabei weltweit den öffentlichen Rundfunk mit einem charakteristischen Klopfen gestört.

Ein Teil des Russian Woodpeckers
Ein Teil des Russian Woodpeckers

Die Rückfahrt verläuft noch etwas schleppender als die Hinfahrt. Wieder müssen wir durch mehrere Check-Points und diesmal sind sogar Kontaminationskontrollen vorgeschrieben. Einzeln müssen sich alle Teilnehmer unserer Gruppe von großen Maschinen auf Strahlung testen lassen.

Fazit

Längst hat der Massentourismus Besitz von Tschernobyl ergriffen. Von echtem Abenteuer ist hier kaum noch etwas zu spüren. Täglich werden hunderte Busse durch die Sperrzone geschleust und an jeder Ecke sieht man Touristen, die mit ihren Geigerzählern den Boden absuchen.

Wer sich vor der Buchung einer solchen Tour etwas informiert hat, weiß darüber allerdings gut Bescheid. Was die Authentizität der Sperrzone angeht, wurden wir daher nicht überrascht. Wir haben genau die Fotomotive vorgefunden, die wir uns erhofft hatten und haben gleichzeitig einen besseren Einblick in ein so wichtiges Ereignis der jüngeren Geschichte erhalten.

Was wir uns aber anders erhofft hatten war die Organisation der Tour. Unsere Guides konnten zwar Englisch, haben aber kaum Informationen geliefert. Generell war der Ablauf der Tour schlecht geplant. Wir mussten so lange an uninteressanten Orten stehen, dass wir dann in Prypjat nicht mehr genug Zeit hatten. Wenn es dafür gute Gründe gibt (z.B. zu hohe Strahlenbelastung an gewissen Orten) hätte man das wenigstens kommunizieren können.

Alles in allem würden wir die Tour auf jeden Fall wieder machen, aber vermutlich mit einem anderen Anbieter.


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Schau dir auch unseren DIN A4 Wandkalender zum Thema Tschernobyl an, in dem unsere besten Bilder aus der Sperrzone veröffentlicht wurden. 

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Lena

Lena

Lena (28) ist studierte Soziologin und hat zuletzt als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni Mannheim gearbeitet. Seit September 2015 ist sie als digitale Nomadin auf Weltreise. Mehr erfährst du hier.